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Das Meer im Zeitraffer

Die Nord- und Ostsee sind Lebensräume, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern – auch heute noch. Strömungen, Temperaturen und Winde verändern sich und mit ihnen die Lebensbedingungen für die Meerestiere und Pflanzen. Um zu verstehen, wie stark diese Variabilität ist und wodurch diese ausgelöst wird, haben Forscher des Instituts für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum Geesthacht (HZG) erstmals eine 60-Jahres-Simulation für die Nord- und Ostsee im Computer laufen lassen. Die Ergebnisse sind zum Teil verblüffend und nicht zuletzt wichtig, um auch die Folgen des Klimawandels zu verstehen.

Ostsee

Veränderungen in Nord- und Ostsee haben nicht zuletzt durch giftige Algenblüten auch einen Einfluss auf den Menschen. Foto: HZG/ Sabine Billerbeck

Die Nord- und Ostsee sind Lebensräume, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern – auch heute noch. Strömungen, Temperaturen und Winde verändern sich und mit ihnen die Lebensbedingungen für die Meerestiere und Pflanzen. Um zu verstehen, wie stark diese Variabilität ist und wodurch diese ausgelöst wird, haben Forscher des Instituts für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum Geesthacht (HZG) erstmals eine 60-Jahres-Simulation für die Nord- und Ostsee im Computer laufen lassen. Die Ergebnisse sind zum Teil verblüffend und nicht zuletzt wichtig, um auch die Folgen des Klimawandels zu verstehen.

Lebensräume wandeln sich. Das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Denn auch ohne das Zutun des Menschen kann sich zum Beispiel das Klima verändern. Es gibt Eis- und Warmzeiten und lang- oder kurzfristige Klimaschwankungen. Über dem Nordostatlantik zum Beispiel kommt es etwa alle zehn Jahre zu großräumigen Veränderungen der Luftdruckverhältnisse, die auch das Wetter in Europa prägen. Diese Veränderungen haben einen entscheidenden Einfluss auf den Lebensraum der Nordsee und der Ostsee. Verändern sich Wind- oder Meeresströmungen, dann können sich auch Salzgehalte oder Wassertemperaturen ändern. Und davon wiederum hängt ab, wie viel pflanzliches Plankton im Wasser gedeiht oder wie gut sich die Eier und Larven von Fischen entwickeln.

Datenmengen aus 60 Jahren

Um zu verstehen, wie und warum sich die Meereslebensräume verändern, reicht es nicht, mit dem Schiff hinauszufahren und Wasserproben zu nehmen oder Daten einzelner Wetterstationen zu sammeln. Eine solche Datenbasis ist zu lückenhaft, um die großräumigen Veränderungen der ganzen Nord- und Ostsee überblicken zu können. Wissenschaftlerinnen des Instituts für Küstenforschung am HZG haben deshalb mithilfe komplexer mathematischer Modelle erstmals die Veränderungen in der Nord- und Ostsee über einen langen Zeitraum von 60 Jahren im Computer simuliert – von 1948 bis zum Jahr 2008. Das Besondere: Die Forscherinnen haben für ihre Analyse verschiedene Simulationsmodelle miteinander verknüpft: Erstens ein mathematisches Modell, das die physikalischen Umweltparameter simuliert, die Wassertemperaturen, die Meeresströmung oder die Salzgehalte im Meer; zweitens ein Ökosystem-Modell, das die biologischen und chemischen Vorgänge mathematisch beschreibt.

Simulierte mittlere (60 Jahre) Phytoplanktonproduktion in Nordsee und Ostsee aus dem gekoppelten Ökosystemmodell ECOSMO.

Simulierte mittlere (60 Jahre) Phytoplanktonproduktion in Nordsee und Ostsee aus dem gekoppelten Ökosystemmodell ECOSMO. Geringere Produktion entsteht in den saisonal geschichteten, zentralen Meeresbereichen. Hohe Produktion in den zum Teil durchmischten und von Flusseinträgen beeinflussten Küstenbereichen.

Dazu gehören die Kreisläufe von Nährstoffen, die das Wachstum des pflanzlichen Planktons befördern, ferner das Zooplankton, das sich von den Pflanzen ernährt und zum Schluss die Fische, die das Zooplankton oder einander fressen. Das Modell berechnet für den gesamten Zeitraum von 60 Jahren alle 20 Minuten sowohl die aktuellen physikalischen Werte, also die Veränderungen der Wassertemperatur oder die Bewegung der Wassermassen, als auch die Reaktion der Biologie, der Lebewesen darauf. Dabei ergibt sich eine ungeheure Datenmenge. Etwa 36 Stunden dauert es, bis die 60 Jahre im Zeitraffer simuliert sind.

Physik und Biologie gemeinsam betrachten

Eine solche Kopplung von Biologie und Physik in einer Simulation und eine gemeinsame Analyse für Nord- und Ostsee über einen so langen Zeitraum sind in dieser Kombination bisher einzigartig. „Oftmals werden Nord- und Ostsee bei Simulationen getrennt voneinander betrachtet“, sagt die Ozeanografin Ute Daewel, die die Simulation gemeinsam mit der Ozeanografin Corinna Schrum am HZG durchgeführt hat. „Und dass, obwohl der Austausch von Wassermassen zwischen beiden Meeren sehr wichtig ist. Die Situation vor Südnorwegen zum Beispiel lässt sich nur dann korrekt simulieren, wenn man Nord- und Ostsee gemeinsam betrachtet.“ So kommt es, wenn die Wetterlage günstig ist, alle paar Jahre zu einem starken Einstrom von Salzwasser aus der Nordsee in die Ostsee. Damit gelangt lebenswichtiger Sauerstoff in die tiefen Wasserschichten der Ostsee. Aus der Ostsee wiederum strömt Wasser an der Meeresoberfläche in die Nordsee, was dort den Lebensraum beeinflusst.

Die Kunst, Datenmassen zu lesen

Letztlich liefert die Simulation den Forscherinnen zunächst eine gigantische Menge an Daten, wobei die 20-Minuten-Werte für jeden Tag der Vergangenheit gemittelt werden. Das sind für alle Tage insgesamt mehr als 20.000 Datensätze, die wiederum etliche Werte für physikalische und biologische Parameter enthalten. „Mit einer solchen Datenmenge kann man zunächst wenig anfangen, die Kunst besteht darin, die Werte zusammenzufassen“, sagt Ute Daewel, zum Beispiel Datenreihen für bestimmte Meeresgebiete oder Zeiträume näher zu betrachten. Doch welche Gebiete oder Zeiträume sind interessant? Welche lassen Aussagen über Veränderungen zu? Um das herauszufinden, hat Ute Daewel die Ergebnisse ihrer Simulation einer statistischen Analyse, einer sogenannten empirischen orthogonalen Funktionsanalyse (EOF), unterzogen. Diese Analyse erkennt in Daten bestimmte auffällige Veränderungen, die sogenannte Variabilität.

Für die Ostsee ergab die EOF-Analyse der Oberflächenströmungen als auffälligste wesentliche Veränderung, dass nach 1988 die Strömungskomponente aus nordwestlichen Richtungen stark zugenommen hat. Das hat dazu geführt, dass das Wasser an der Meeresoberfläche verstärkt vom schwedischen Festland auf die Ostsee hinausgeschoben wird. Dadurch kommt eine Art Auftriebsprozess (Upwelling) in Gang. Dieser führt dazu, dass an der Küste Wasser aus der Tiefe aufsteigt und in die oberen Wasserschichten gelangt. Dieses Tiefenwasser enthält Nährstoffe wie zum Beispiel Phosphate, die das pflanzliche Plankton nahe der Wasseroberfläche zum Wachstum anregen.

Erklärung für giftige Algenblüten

Davon profitieren unter anderem die Cyanobakterien, die früher als Blaualgen bezeichnet wurden. Diese können in Phasen des Upwellings starke Algenblüten bilden. Das kann dann problematisch sein, wenn sich Cyanobakterien vermehren, die giftige Substanzen produzieren. Es können sich Blüten bilden, in denen das Baden verboten ist, zudem können Fische oder Muscheln die Giftstoffe anreichern oder sogar daran zugrunde gehen. Allgemein, sagt Daewel, habe das Wachstum des Phytoplanktons in der Ostsee zugenommen – und damit auch die Fischbiomasse. Das liege zum einen daran, dass von Land viele Nährstoffe zum Beispiel aus Abwässern oder von Äckern in die Ostsee gelangten.

Algenblüte in der Nordsee.

Algenblüte in der Nordsee. Foto: HZG/ Sabine Billerbeck

Wie die aktuelle Simulation zeigt, spielt vor allem über die Jahre zunehmend auch die Veränderung des Windregimes über der Ostsee eine entscheidende Rolle, welches den Upwelling-Prozess an der schwedischen Küste steuert. Diese Erkenntnis ist neu und überraschend.

Komplexe Situation in der Nordsee

Für die Nordsee, die wegen der starken Gezeiten und der Strömungsverhältnisse räumlich komplexer ist als die Ostsee, sind auch die Ergebnisse der Simulationen komplexer. So gibt es deutliche Unterschiede zwischen der nördlichen und der südlichen Nordsee. Die nördliche Nordsee wird mehr durch den Einstrom von Wasser aus dem Atlantik dominiert. Hier sind die Wassermassen im Sommer klar in warmes Oberflächenwasser und kaltes Tiefenwasser geschichtet. In der südlichen Nordsee ist das Wasser viel stärker durchmischt – insbesondere durch die Wechselwirkung der Gezeiten mit der Küste und dem Meeresgrund. Zudem ist hier der Einfluss des Ärmelkanals stärker. Die EOF-Analyse zeigt für die Nordsee verschiedene auffällige Arten von Variabilität. Interessant ist etwa eine Zunahme der Wassertemperaturen in der gesamten Nordsee, wobei sich Nord und Süd unterscheiden. In der stärker durchmischten südlichen Nordsee ist die gesamte Wassersäule wärmer geworden. In der nördlichen Nordsee ist die deutliche Erwärmung eher auf die oberen Wasserschichten beschränkt.

Auffällig ist auch die Veränderung der Meeresströmungen. Diese haben in den vergangenen drei Jahrzehnten als Folge des veränderlichen Windregimes zugenommen. Ausnahme ist das Tiefenwasser in der nördlichen Nordsee, wo die Strömungsgeschwindigkeiten von den 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre besonders gering waren. Welche Konsequenzen die in der Simulation aufgedeckten Phänomene für die Lebewesen in der Nordsee haben, ist noch nicht ganz klar. Ute Daewel vermutet aber, dass es beispielsweise durch die höheren Strömungsgeschwindigkeiten in der Nordsee zu einem verstärkten Einstrom von Nährstoffen aus dem Nordatlantik kommt, welcher zu einer Zunahme des Phytoplanktons in der zentralen Nordsee führt. Immerhin geht aus den Simulationen deutlich hervor, dass vor allem die veränderten Windverhältnisse über der Region für längerfristige Schwankungen im Phytoplankton der Nordsee verantwortlich sind. Auch hier müssen genauere Untersuchungen klären, was das im Detail für den Lebensraum bedeutet.

Den Einfluss des Klimawandels abschätzen

Ute Daewels Simulationen über lange Zeiträume sind wichtig, um die Veränderlichkeit von Nord- und Ostsee zu verstehen. Das ist auch von zentraler Bedeutung, um jene Variabilität zu erkennen, die durch den Klimawandel verursacht wird. Mittlerweile wurde die Simulation noch um einige Jahre verlängert und deckt nun den Zeitraum bis 2015 ab. „Wir wollen verstehen, welche Veränderungen auf natürliche Variabilität zurückzuführen sind und welche nicht“, sagt die Forscherin. Mit der 60-Jahres-Simulation ist sie diesem Wunsch ein gutes Stück näher gekommen.

Text: Tim Schröder / Wissenschaftsjournalist

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Dr. Ute Daewel Wissenschaftlerin Systemanalyse und Modellierung

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